Cover
Titel
Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500–2000


Herausgeber
Pfister, Christian
Erschienen
Bern 2002: Haupt Verlag
Anzahl Seiten
263 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Monika Gisler, ETH Zürich

Seit einigen Jahren wird die Erforschung der Geschichte von Naturkatastrophen zu einer wichtigen Domäne der Historiographie, nachdem diese von den historisch arbeitenden Kulturwissenschaften lange Zeit vernachlässigt worden war. Auch die noch relativ junge Umweltgeschichte zeigte sich in ihren Anfängen an Naturkatastrophen nicht sonderlich interessiert, ihr Fokus lag vorwiegend auf lang- oder mittelfristigen Entwicklungen, und nicht den oft überfallsartigen Ausbrüchen von Naturgewalten. So konzentrierte sich z.B. die Klimageschichte in den vergangenen Jahrzehnten auf die Ermittlung langer Datenreihen, etwa zur Rekonstruktion eines allfälligen Klimawandels über die Jahrhunderte. Erst gegen Ende der 1980er Jahre begann sich seitens der Geschichtswissenschaft eine Hinwendung zum Thema Naturkatastrophen abzuzeichnen.

Es scheint für den Klima-Historiker und Herausgeber des anzuzeigenden Bandes, Christian Pfister, logische Konsequenz gewesen zu sein, sich von den Klimareihen ab- und einem mehr ereignisgeschichtlichen Thema, den Naturkatastrophen, zuzuwenden. Dabei ist es dem Herausgeber wichtig, in diesem Band nicht nur einzelne Ereignisse zu beleuchten, sondern Strategien zur Bewältigung von Naturkatastrophen [...] in einem zeitlichen Längsschnitt zueinander in Beziehung zu setzen (S. 7).

Die Fragestellungen der in diesem Sammelband zusammengezogenen Beiträge werden von diesem Rahmen bestimmt. Der Schwerpunkt liegt in der Thematisierung der sozialen und wirtschaftlichen Bewältigung von Naturkatastrophen und allfällig darin erkennbarer Paradigmenwechsel. Der Band hat zwei Entstehungspunkte: Zum einen ist er das Resultat eines am Historischen Institut in Bern abgehaltenen Seminars von 1996, zum anderen steht er mit der Erarbeitung eines Beitrags für die Expo 2002 in Zusammenhang. Bei der Zusammenstellung der Artikel zielte Pfister auf ein ihm wichtiges Anliegen ab: Er möchte die Diskussion und gegenseitige Wahrnehmung von Natur- und Sozialwissenschaften anregen.

Unter den Beiträgern und Beiträgerinnen der einzelnen Themen finden sich folglich neben Historikerinnen und Historikern auch Geografen und Geografinnen, ein Bauingenieur, eine Biologin, u.a. Einzelne Beiträge bleiben denn auch bei der Rekonstruktion von Naturereignissen stehen, ohne den Blick auf weiterreichende Konsequenzen zu lenken. Ein Grossteil der Artikel jedoch diskutiert die Bewältigung verschiedener Ereignisse, vornehmlich im Hinblick auf Solidaritäts- und Spendentätigkeiten im Anschluss an das Geschehen. Dabei fällt auf, dass die exemplarisch vorgeführten Ereignisse vorab im 19. Jahrhundert angesiedelt sind, nur gerade zwei Artikel decken die Zeit vor 1800 ab (der eine befasst sich mit der Darstellung von Naturkatastrophen in Flugblättern des 16. und 17. Jahrhunderts, der zweite mit Naturkatastrophen, insbesondere Erdbeben, im Korrespondentennetz des Berner Gelehrten Albrecht von Haller). Ein einziger Beitrag ist im 20. Jahrhundert angesiedelt (vgl. auch S. 211). Zudem handelt es sich bei den meisten Beiträgen um klimatisch bedingte Naturkatastrophen (z.B. die Bergstürze von Goldau und Elm 1834 bzw. 1881, die Hochwasser von 1834 und die Überschwemmungen von 1868, u.a.). Seismische Ereignisse für das 19. und 20. Jahrhundert etwa fehlen ganz, obwohl diese Zeit an Erdbeben nicht gerade eben arm gewesen ist. Auch die abschliessenden Thesen konzentrieren sich hauptsächlich auf das 19. Jahrhundert. Damit scheint mir die Ankündigung im Buchtitel, eine Geschichte der Naturkatastrophen in der Zeit zwischen 1500 und 2000 vorzulegen, etwas vermessen.

Einleitend diskutiert Pfister die bis heute nicht gelösten Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff «Naturkatastrophe». Eine befriedigende Alternative kann auch Pfister nicht vorlegen, er hält am Gebrauch des Begriffs fest. Naturkatastrophen werden vom Autor in erster Linie als Schrittmacher von Lernprozessen, vor allem bezüglich ihrer Bewältigung, angesehen (die Frage der Prävention wird in diesem Zusammenhang kaum angeschnitten). Dabei interessiert ihn (wie auch schon an anderen Orten dargelegt), inwiefern der Umgang mit der Katastrophe die nationale Identität der Schweiz gefördert hat.

Diese Frage nimmt Pfister in der den Beiträgen nachgestellten Synthese wieder auf. Mit Blick auf einige im Band versammelte Artikel zum 19. Jahrhundert und unterlegt mit eigenen Forschungen postuliert er, dass schwere Naturkatastrophen und die damit verbundene Mobilisierung der Hilfsbereitschaft Schübe der nationalen Integration ausgelöst haben (S. 223). Dies beleuchtet er unter den drei Dimensionen Krisenkommunikation, Echo auf Hilfsaktionen und Ergebnisse der Sammlungen. Dabei kann eine Regelmässigkeit des Spendenflusses von den Zentren und wohlhabenden Regionen des Mittellandes in die Peripherien, wo sie vor allem den Unterschichten zugute kamen, beobachtet werden. Diese Hilfsaktionen – so ein erstes Fazit Pfisters – trugen folglich dazu bei, bestehende soziale und regionale Gegensätze zu überbrücken und benachteiligte Regionen und Schichten enger an die Nation zu binden (vgl. v.a. S. 228–230). Aber Pfister geht noch weiter. Aufgrund der vorliegenden Ergebnisse hält er die Auffassung für vertretbar, dass Naturkatastrophen in der Schweiz erfolgreich als Plattformen zur Inszenierung nationalen Gedankenguts und nationaler Ereignisse instrumentalisiert worden sind. Naturkatastrophen – so seine streitbare, aber nicht uninteressante These – traten an die Stelle von erinnerungswürdigen Kriegen, an denen es in der Schweiz des 19. Jahrhunderts mangelte, und wurden so zu zentralen Mobilisierungsereignissen für die Sache der Nation (S. 230). Eine sich im 19. Jahrhundert ausbildende «Katastrophenkultur (S. 231), mit eigenen Organisationsformen und Ritualen, trat neben den Inbegriff der Identitätsstiftung, die Festkultur bürgerlichmännerbündischer Vereine, ja wirkte gar über diese hinaus. Damit trugen Naturkatastrophen wesentlich zur Ausbildung und Zementierung nationaler Identität bei. Pfister ist sich bewusst, dass diese These gewagt ist und erst in vergleichender Betrachtung ähnlicher Prozesse in anderen Ländern erhärtet werden kann.

Der Band stellt, abgesehen von den oben angebrachten Einwänden, eine wichtige Übersicht über die am Anfang stehende Forschung klimatisch bedingter Naturkatastrophen vor allem im 19. Jahrhundert in der Schweiz aus sozialgeschichtlicher Sicht dar. Dabei ist es Anspruch und Verdienst Pfisters, die Geschichte der Naturkatastrophe, wie auch schon die Klimageschichte, als interdisziplinäres Projekt anzulegen, so dass die im allgemeinen stark segregierten Disziplinen von den je anderen Erkenntnissen profitieren können. Dass dies in diesem Band noch nicht in allen Bereichen überzeugend gelungen ist, liegt auch daran, dass diese Zusammenarbeit bislang kaum praktiziert wurde, und folglich nicht auf Erfahrungen zurückgegriffen werden konnte. Dabei ist der Band kein Lehr- oder Handbuch, sondern stellt eine Dokumentation im Sinne eines work in progress dar. Und das ist gut so.

Zitierweise:
Monika Gisler: Rezension zu: Christian Pfister (Hg.): Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500–2000, Bern/Stuttgart/Wien, Haupt, 2002. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 1, 2004, S. 90-92.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 1, 2004, S. 90-92.

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